… auch wenn es kalt ist, wenn es unter den Füßen bebt.
Reisebeobachtungen von Buchkirchen (AT) bis Gällivare (SE)
Diesen Sommer mussten wir uns des Öfteren warm anziehen, da sich viele der Projekte für das PREFARENZEN Buch 2022 im hohen Norden befanden oder zwischendurch das Wetter einfach anders wollte, als es sollte. Uns führte der Weg durch Österreich, in die Schweiz, nach Süd- und Mitteldeutschland, in das nordschwedische Sápmi bis nach Norwegen.
Die Vielfalt der Erfahrungen war eindrucksvoll: Wasser toste den Fels hinunter, die Erde bebte unter unseren Füßen und mancher Ort zeigte seinen Charakter nur für kurze Augenblicke. Die ausgewählten Fotos mit den passenden Geschichten sind ein Streifzug durch das, was man das große Rauschen bei der Arbeit nennen könnte.
ÖSTERREICH
Auftakt in Sierning, Buchkirchen und Schwanenstadt. Der erste Eindruck lässt Landflucht vermuten. Natürlich liegt man damit falsch, selbst wenn das Kino leider nicht mehr offen hat und der letzte Film dort 1993 gelaufen ist. Es soll in den kommenden Jahren revitalisiert werden. Wie zu erwarten war, gibt es aber andere Idyllen in den kleinen Orten in Oberösterreich, die zum Bleiben einladen.
SCHWEIZ
In der Schweiz ereilte uns schlechtes Wetter. Zeit genug, um ein Gebäude aufzusuchen, das durch seine Form Fragen stellt. Leider war der Hausherr und Architekt des Flexhouse gerade unterwegs. Zurück in Horgen hieß es dann warten, bis der Beton trocken ist.
DEUTSCHLAND
Wenn man die Augen auch in den kleinen Pausen offenhält, erlebt man die eine oder andere Überraschung. Bei einem Zwischenstopp kurz nach München begeistert der Umbau einer Autowaschanlage aus den späten Sechzigern. Unter der Schicht aus Industrieglas blieb die elegante Gestalt von damals sichtbar. In Würzburg dann das eindrucksvolle Bronzeportal des Doms. Ein Zufallsfund, ein inspirierender Glücksfall.
Unser Weg führte nach München, Schweinfurt, Würzburg und Ulm. Mit dem Stopp an der Hochschule für Gestaltung gingen wir nicht nur unserer Neugierde nach, sondern wurden Zeugen einer völlig unaufgeregten und zeitlosen Architektur. Die Hochschule für Gestaltung Ulm (HfG Ulm) setzte international Impulse in sämtlichen Gestaltungsdisziplinen und ist verbunden mit großen Namen der Nachkriegsmoderne – der Schriftstellerin Inge Aicher-Scholl, dem Grafiker Otl Aicher, dem Designer Hans Gugelot und dem Architekten Max Bill. Sie kennen die HfG nicht? Das Lufthansa Logo, der Stil von Braun und die Uhren von Junghans sind zum Beispiel erfolgreiche Designprodukte aus dem Umkreis der einzigartigen Hochschule.
Gestalterische Inspiration trifft einen meist unvermittelt und Farben sind auch immer Zeitzeugen, wie dieser Dreisitzer in einem Hotel in Süddeutschland eindrucksvoll demonstriert. Auch eine interessante Methode zum Thema Inspiration: Maßstäbe mischen.
Deutschland – Land der Autos. Gelungener Stil in Rockenberg, einem kleinen Ort nördlich von Frankfurt: Da komme einer und sage, Opel hätte keine Eleganz. Der schöne Wagen war leider nicht mehr zu haben. Und auf der Autobahn waren wir immer ein wenig zu schnell oder zu langsam, um die seltenen, vorbeirollenden Boliden vor die Kamera zu bekommen.
Erstaunliches in Mitteldeutschland. Der Materialmix auf dem Dach dieses Hauses ließ mich stutzen. Sind die Holzschindeln echt? Ich musste mindestens zwei Mal hinsehen. Nicht weit entfernt ein See, an dem man am Abend zum Tagesabschluss den Sonnenuntergang beobachten kann. Wo die Ziege herkam, konnte ich nicht herausfinden. Sie war auf alle Fälle unerschrocken und zutraulich.
SCHWEDEN
Malmö
Malmö gab es in diesem Jahr nur im Vorbeigehen. Es blieb wenig Zeit in der schönen schwedischen Stadt. Schnell entstand ein Bild am alten Freihafen, der in den nächsten 10 Jahren dem neuen Mega-Stadtviertel Nyhamnen weichen wird, und eines vom grauen Eis mit schwarzer Sesamkruste aus der hippen Hafenkantine Saltimporten Canteen.
Architektonisch wie intellektuell eine Entdeckung ist die Konsthall des Architekten Klas Anshelm. Dahinter verbirgt sich eine unbeheizte, aber sehr flexibel nutzbare 2000 m2 große Halle mitten in Malmö, die mit kostenlosen Eintritten zeitgenössische Kunst jedem zugänglich macht.
Lund
Ein Superlativ der Wissenschaft ist das weltweit einzigartige Röntgenforschungslabor MAX IV im südschwedischen Lund. Die nahegelegene, genossenschaftlich organisierte und in Holzmodulbauweise umgesetzte Wohnsiedlung BSR Djingis Khan war schon in den 1970er Jahren Anziehungspunkt für Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler und deren Familien.
KIRUNA

Aufstehen um 4:30 Uhr. Im Sommer sind es nicht einmal zwei Stunden Nacht im nordschwedischen Kiruna. Helles Licht gleißt früh über die Tundra. Erstaunliche Farben zwischen Gold, Rot, Rost, Anthrazit und unbeschreibliche Naturtöne ziehen sich bis zum weit entfernten Horizont, als hätte jemand Abraham Gottlob Werners „Nomenklatur der Farben“ über die Landschaft ausgeschüttet
Die 120 Jahre alte Eisenstadt Kiruna wird ihr Zentrum bis 2035 um drei Kilometer nach Osten versetzen. So manche alten Gebäude verschwinden, andere finden einen neuen Standort. Mehr als 6000 Bewohner packen zusammen und ziehen um. Dieses Haus hier ist eines der ältesten vor Ort. Es scheint, als wären seine Besitzer nach dem Tee aufgestanden und einfach nicht mehr wiedergekommen.
Churros- und Konfektstand im Stadtzentrum von Kiruna + Ralph Erskines Siedlung Kvarteret Ortdrivaren plus Plakat mit Greta Thunberg
Der britisch-schwedische Architekt Ralph Erskine entwarf 1958 die Vision einer ökologischen Stadt in der Arktis. Teile seiner Utopie konnte er mitten in Kiruna verwirklichen. Mehr solcher Ideen wären sicher in Greta Thunbergs Sinne. Leider sind die Tage der konkreten Utopie und des alten Stadtzentrums gezählt. Ob im neuen Kiruna die Menschen auch einmal in der Woche stundenlang Schlange am Churros-Stand stehen werden?
Ende der Deformationszone in Kiruna: Der Adolf Hedingsvägen bildet eine der Grenzen für die Ortsgebiete, in denen Häuser bis 2025 abgerissen oder delokalisiert werden. Rechtsseitig verschwinden die Gebäude, während die linke Straßenseite vorerst bestehen bleiben wird. Und wie steht es um das neue Kiruna? Wir wären nicht in Kiruna gewesen, wenn wir nicht das neue Rathaus besucht hätten. 2018 materialisierten Henning Larsen Architects gemeinsam mit Tema Landscape Architects den sogenannten „Crystal“ – einen etwas trotzigen Traum mit goldglänzendem Innenleben.
Es muss wohl auch Fahrradfans in der nördlichsten Stadt Schwedens geben. Das pathetische Logo der Fahrradmarke Skeppshult prangt an einem gelben Holzhaus in Kiruna. Eisen und Erz aus Kiruna werden in der kleinen Stadt Skeppshult zu Fahrrädern und seit 1906 in Handarbeit auch zu großartigen, gusseisernen Pfannen verarbeitet. Ein paar Straßen weiter ein rosa Haus, dessen Werbeschilder nur noch wie grafische Platzhalter wirken. Mutige Farben auf alle Fälle, wenn das Wetter nur etwas freundlicher gewesen wäre …
Angebotsschild für Rentierprodukte in Kiruna + Augmented Reality Brille im Informationszentrum von LKAB in Gällivare
Tradition und Zukunft liegen manchmal dicht beieinander. Produkte der Rentierzucht sind allgegenwärtig im schwedischen Sápmi. Mit einer virtuellen Tour kann man durch das alte und das neue Gällivare spazieren, während man auf weichen Rentierfellen sitzt. Andernorts setzt manch ein Rentierzüchter noch ganz auf etablierte Produkte und klassische „Printmedien“.
GÄLLIVARE
Ausschnitt aus einem Foto von Cooper & Gorfer (Interruptions) mit Sápmi Tracht + Kunskapshuset Schule in Gällivare
Aus zwei mach eins: Die Bergbaustadt Malmberget weicht dem Erzabbau und fusioniert mit der Nachbarstadt Gällivare. Gesellschaftlich wichtige Bauten wie ein gemeinsames Ausbildungszentrum werden euphorisch von allen Bewohnern angenommen. Mit eigenwilliger Architektursprache, kräftigen Farben und symbolischen Bezügen zum kulturellen Erbe des indigenen Volkes der Samen gehen die Planer in Gällivare einen ungewöhnlichen Weg.
Vereinzelt zeigen sich noch Spuren des Wohnens in der verschwindenden Stadt Malmberget. Um die Ecke ist der Abriss schon vollzogen. Eine Stadt im Umbruch?
Kult-Cover des Musikers SUN RA in einem Schaufenster + klassische Papiertüte mit schwedischen „Godis För Finsmakare“
Ständige Begleiter auf den Wegen in Skandinavien sind das Notizbuch und ein paar Süßigkeiten. Schreiben verbraucht natürlich Energie, deren Verlust es zu kompensieren gilt. Hilfreich bei entspannter Aufmerksamkeit sind auch ein paar Takte Musik. Kaum zu glauben, dass wir in Schweden ausgerechnet auf SUN RA stoßen, dessen Plattentitel bestens als Reisemotto taugt: Space is the Place. What a great inspiration!
NORWEGEN
Zum Abschluss die Reisestationen noch einmal Revue passieren lassen. Norwegen, Schweden, Deutschland, Österreich und die Schweiz. Ein Souvenir in diesem Jahr? Eher ein neues Reiseziel: Die landschaftlich atemberaubenden Scenic Routes in Norwegen lohnen sich für ein genaueres Hinsehen und zu weiteren Expeditionen.

Text: Claudia Gerhäusser Fotos: Claudia Gerhäusser, Croce & Wir